Topisches System
Das topische System ist wie ein altes, fast vergessenes Kartenwerk des Denkens, das man nur noch in den Rändern moderner Lehrpläne findet, oft übersehen, selten in seiner Tiefe verstanden.
Und doch birgt es einen Zauber, der weit über das hinausgeht, was man ihm auf den ersten Blick zutrauen würde. Ursprünglich in der Rhetorik der Antike beheimatet,
entwickelte sich das topische System als eine Methode, mit der man Gedanken nicht nur ordnet, sondern sie auch gezielt zur Entfaltung bringt.
Es handelt sich dabei nicht um ein starres Gerüst, sondern vielmehr um einen lebendigen Werkzeugkasten, dessen Anwendung ebenso viel mit Kreativität wie mit Logik zu tun hat.
In einem kleinen Seminarraum, irgendwo in einer alten Universität, sitzt ein Professor vor einer Tafel und spricht zu einer Handvoll Studierender, die sich mehr aus Neugier als aus Pflicht in diesen Kurs eingeschrieben haben.
Er beginnt nicht mit Definitionen, sondern mit einer Geschichte. Einer Geschichte über Cicero, über Aristoteles, über das Ringen um Worte, als Denken noch eine Frage der öffentlichen Debatte war.
Und dann zeichnet er an die Tafel Kreise, Linien, Verbindungen, als würde er ein geistiges Netzwerk aufblättern, das älter ist als jedes moderne Argumentationsschema.
Das topische System, erklärt er, ist kein System im technischen Sinne, sondern ein Ort des Suchens, eine Sammlung gedanklicher Aussichtspunkte, von denen aus man ein Thema überblicken kann.
Jeder „Topos“ – wörtlich ein Ort – ist ein Ausgangspunkt für Ideen, für Argumente, für neue Perspektiven. Ob man nach Ursachen fragt, nach Gegensätzen, nach Definitionen, Beispielen, Analogien oder Konsequenzen –
alles kann ein Topos sein, alles kann sich entfalten, wenn man sich traut, die Frage richtig zu stellen. In der Rhetorik dient das topische System dazu, überzeugend zu sprechen. In der Philosophie, um klar zu denken.
In der Pädagogik, um Verstehen zu ermöglichen. Und vielleicht, sagt der Professor und lächelt leicht, sei es heute sogar wichtiger denn je, weil es in einer Zeit des Überflusses an Informationen darauf ankomme,
kluge Fragen stellen zu können.
Die Studierenden lauschen, zuerst zögerlich, dann mit wachsendem Interesse. Bald beginnen sie selbst zu experimentieren.
Sie nehmen scheinbar einfache Begriffe – Freiheit, Gerechtigkeit, Fortschritt – und wenden das topische Denken darauf an. Was bedeutet das? Woraus entsteht es? Was steht ihm entgegen?
Welche Beispiele gibt es? Welche Folgen hat es? Und während sie sprechen, skizzieren, streiten, merkt man, wie sich etwas bewegt. Sie denken nicht länger linear, nicht nur von A nach B,
sondern kreisförmig, vernetzt, vielschichtig.
In diesem Moment zeigt sich die eigentliche Kraft des topischen Systems: Es erzeugt Tiefe. Es fordert dazu heraus, über die erste Antwort hinauszugehen.
Es zwingt niemanden, sich sofort festzulegen, sondern eröffnet Wege. Gerade in einer Welt, die oft nach schnellen Lösungen ruft, wirkt das fast wie ein Widerstand – ein langsames, methodisches, zugleich offenes Denken,
das mehr auf Verständnis als auf Rechthaberei zielt.
Abends verlässt der Professor den Seminarraum, und seine Notizen wirken wie das Fragment eines viel größeren Plans. Nicht, weil sie unvollständig wären, sondern weil das topische Denken nie wirklich abgeschlossen ist.
Es lädt ein, immer weiter zu suchen, zu entdecken, neu zu verbinden. Und irgendwo da draußen, vielleicht an einem Küchentisch, vielleicht in einer Bibliothek, sitzt ein junger Mensch mit einem Stift in der Hand,
einem Thema im Kopf und der leisen Ahnung, dass er oder sie einen gedanklichen Ort betreten hat, der kein Ende kennt. Das topische System ist keine Methode, die man einmal lernt und dann beherrscht.
Es ist ein Denkraum, der sich erst im Gehen erschließt.